Nachruf

Maurice Papon

22. Februar 2007
Quelle: The Economist print edition

Maurice Papon, Kollaborateur, starb am 17. Februar im Alter von 96 Jahren


UNTER den Angehörigen des öffentlichen Dienstes in Frankreich würde man kaum ein passenderes Beispiel finden als Maurice Papon. Gebildet, elegant und zurückhaltend,  besaß er das Selbstbewußtsein eines Mannes, der mit Leichtigkeit die besten Lycées von Paris durchlaufen hatte. In seinen Präfekturen wurden, mit der Trikolore im Hintergrund, Anweisungen detailgenau ausgeführt und die korrekte Form wurde stets gewahrt. Un fonctionnaire, so hieß es, est fait pour fonctionner: ein Beamter soll pflichtgemäß seine Arbeit erledigen, sonst nichts.

Als die Deutschen Bordeaux besetzten, stellten sie fest, daß man sich auf Herrn Papon verlassen konnte. Der Generalsekretär der Präfektur der Gironde, der er 1942 wurde, stellte sich als höflich und zuvorkommend heraus, ein vorbildlicher Beamter des soeben enstandenen Vichy Regimes, das offensichtlich in neutraler Weise Frankreich Seit an Seit mit den Nazis regieren sollte. Wenn es manchmal schwierige Themen gab, versteckte er sich hinter seinem Chef, dem Präfekten, aber in der Regel war er zuverlässig und “korrekt”. Man konnte sich darauf verlassen, daß er nicht nur das ausführen würde, was von Vichy und Berlin verlangt wurde, sondern mitzudenken und noch mehr zu machen.

Und er war ein vielbeschäftigter Mann, verantwortlich für den Verkehr, die Rationierung von Benzin, Materialzuteilungen und jüdische Angelegenheiten. Von letzteren gab es zwei verschiedene: Status (Identität, Abstammung, Taufe) und Arisierung (Überschreibung ihres Eigentums auf Nicht-Juden). Herr Papon war verantwortlich für die Enteignung jüdischer Läden, Grundeigentum und Juwelen, im gesamten Gebiet, die Bewertung dieser Güter und ihrer Versteigerung. Im Juli 1942 beschrieb er in einem ersten Bericht, daß er 204 Unternehmen arisiert hatte, und daß weitere 493 derzeit in Bearbeitung waren.

In diesem Sommer erhielt er auch andere Befehle. Er sollte eine “ausreichende Anzahl” Juden dingfest machen und sie in ein Zwischenlager in Drancy, Nordfrankreich, schicken. Und er sollte solche Transporte regelmäßig organisieren. Das bedeutete die Anordnung von Verhaftungen, die Organisation von Polizeieskorten und von Schnellzügen, die ohne Zwischenhalt durchzufahren hatten. Er erledigte den Auftrag mit gewohnter Kompetenz. In den Jahren 1942 bis 1944 wurden 1.690 Juden aus Bordeaux verschickt, einschließlich 223 Kinder. Die meisten kamen schließlich nach Auschwitz.

Wußte er um deren Ende? Nein, sagte er später mit Bestimmtheit, und er hatte auch keine Ahnung von den Gesamtplanungen der Nazis. Er hatte gewisse Befürchtungen hinsichtlich Drancy. Aber man muß sich ins Bewußtsein rufen, daß er nicht aus freien Stücken handelte. Es gab eine deutsche Besatzungsmacht; Vichy war ihr unterstellt, und er selbst war, seit 1940, Vichy unterstellt. Nach der Ankunft der Nazis waren viele Verwaltungsbeamte übergangen oder kaltgestellt worden, aber er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und “Fahnenflucht war nicht Bestandteil seiner Lebensauffassung”. Es gab die Pflicht, zu überleben, die Dinge am Laufen zu halten, unnötige Provokationen zu vermeiden, da diese eine schlechte Situation noch verschlimmern könnten. In Bordeaux leistete er auf seine Art Widerstand, wie er berichtete: er entfernte manche Namen von den Verhaftungslisten, er informierte Familien im Voraus, er gewährte einem Rabbi Unterschlupf in seinem Haus. Er organisierte sogar Straßenbahnen, damit die ganz jungen und ganz alten nicht zu Fuß zum Bahnhof gehen mußten, und er buchte Personenzüge, nicht Güterzüge, damit ihre Reise bequemer war.

Vichy vor Gericht: Der Papon-Prozeß

Eine Verpflichtung zu schweigen

Diese Selbstrechtfertigungen ergaben sich, als Herrn Papon der Prozeß gemacht wurde, als einem von nur zwei französischen Beamten, die mit den Nazis bei deren Verbrechen gegen die Menschlichkeit kollaborierten. Hunderte andere hätten auch angeklagt werden können, einschließlich all derer, die für ihn arbeiteten. Aber nachdem die führenden Männer aus Vichy nach der Befreiung wegen Verrat exekutiert worden waren, galt eine andere Devise: Frankreich vereint zu halten, gegenseitige Beschuldigungen zu vermeiden und einen Schleier vor die Vergangenheit zu ziehen. Gemäß dieser neuen Deutung der Geschichte waren alle Franzosen Widerstandskämpfer, einschließlich derer, die sich nun leise zur Aufgabe gemacht hatten, sich gegenseitig zu beschützen. Nach seiner Erinnerung hatte auch Herr Papon die Zeit der Besatzung damit verbracht, zu kämpfen.

Nach dem Krieg dauerte sein steter Aufstieg fast vier Jahrzehnte. Er wurde Präfekt auf Korsika, in Marokko und in Algerien; ab 1958 wurde er für die Pariser Polizei verantwortlich, um die Anweisung von de Gaulle auszuführen, die Stadt gegen aufständische algerische Nationalisten “zu halten”. Diese Anweisung wurde, wie üblich, auf sehr effiziente Art und Weise umgesetzt; während eines Einsatzes im Jahre 1961 wurden bis zu 200 Algerier getötet, deren Leichen noch Tage später aus der Seine geborgen wurden. Er hatte seine Pflicht erfüllt, sagte Herr Papon später. Er hatte die öffentliche Ordnung sichergestellt. Er erhielt die Légion d'honneur verliehen, in Ergänzung seines hochgeschätzten Ordens der Resistance.

Im Jahre 1981 erreichte er, mittlerweile als Abgeordneter für Cher, das Kabinett als Budgetminister. Pflichtgemäß verfolgte er die Reichen, die ihre Steuern hinterzogen. Aber gleichzeitig begannen die Familien der Juden, die er deportiert hatte, ihn zu verfolgen. Listen und Berichte, die sorgfältig archiviert worden waren, wurden in einer Ecke des Rathauses von Bordeaux gefunden. Ein Artikel im Le Canard Enchaîné, einer satirischen Wochenzeitschrift, führte zu seinem erzwungenen Rücktritt aus der Regierung; es folgten 16 Jahre schleppend verlaufender Befragungen und juristischer Winkelzüge. Der letztendlich folgende Prozeß in den Jahren 1997 und 1998 wurde zum längsten der französischen Geschichte. Er endete in einer Verurteilung zu zehn Jahren Gefängnis, von denen er drei verbüßte, bis er aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands vorzeitig entlassen wurde.

Im Gerichtssaal spielte er, selbstbewußt wie eh und je, den Sündenbock. Er fühlte keine Reue und sah keinen Grund, sich zu entschuldigen. Er hatte seine Pflicht getan. An den meisten Tagen erschien er, als lebendiger Affront gegen die französische Selbsttäuschung, mit seiner gelben Akte unter dem Arm. Er breitete die Papiere fein säuberlich auf seinem Tisch aus und führte über den Fortgang genau Buch. Einmal, als ein Psychiater bestellt wurde, legte er Einspruch ein. Er sei nicht geisteskrank. Obwohl er vielleicht, wie er verbittert anfügte, verrückt war, eine so lange Zeit im Staatsdienst geblieben zu sein.